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Wird die Geldpolitik von der Fiskalpolitik dominiert?
Rede von Isabel Schnabel, Mitglied des Direktoriums der EZB, bei der Stiftungskonferenz der Stiftung Geld und Währung: 25 Jahre Euro – Perspektiven für eine Geld- und Finanzpolitik in einer instabilen Welt im Panel zu Inflation und Staatshaushalt. Wird die Geldpolitik von der Fiskalpolitik dominiert?
Frankfurt, 7. Juni 2024
In den vergangenen vier Jahren war der Euroraum einer Reihe schwerer Schocks ausgesetzt, die einen fundamentalen Wandel des makroökonomischen Umfelds mit sich brachten.
Die lange Phase sehr niedriger Inflation und niedriger Zinsen fand durch die Pandemie und den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ein abruptes Ende. Als Reaktion auf den massiven Anstieg der Inflation erhöhte die EZB die Zinsen in einem bis dahin ungekannten Ausmaß, wodurch sich die Finanzierungskosten von Staaten, Haushalten und Firmen spürbar erhöhten.
Die Regierungen reagierten auf Pandemie und Krieg mit umfangreichen Stützungsmaßnahmen, um die negativen Auswirkungen auf Einkommen, Beschäftigung und Wachstum abzumildern. Dies brachte einen spürbaren Anstieg der Staatsverschuldung relativ zum Bruttoinlandsprodukt mit sich, der durch den Inflationsschub abgemildert wurde.
Heute liegt die Staatsschuldenquote im Euroraum mit 90 % wieder in der Nähe ihres Höchststands während der europäischen Staatsschuldenkrise und damit weit oberhalb der im Maastricht-Vertrag vorgesehenen Obergrenze von 60 % bei weiterhin großer Heterogenität über die Mitgliedstaaten hinweg (Folie 2, linke Seite).
Die fiskalischen Maßnahmen spielten eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung der Krisen. Doch das neue Zinsumfeld bedeutet, dass sich die hohen Schuldenstandquoten in den kommenden Jahren vor allem in den hochverschuldeten Ländern in einer spürbar höheren Zinslast niederschlagen werden (Folie 2, rechte Seite).
Daher stellt sich die Frage, ob die Geldpolitik von der Fiskalpolitik in ihrer Handlungsfreiheit – und damit Unabhängigkeit – eingeschränkt wird. Dies bezeichnet man als fiskalische Dominanz.[1]
Meine zentrale Botschaft ist, dass die EZB in den vergangenen Jahren ihr Ziel der Preisstabilität mit großer Entschlossenheit verfolgt hat und dadurch die monetäre Dominanz glaubhaft belegt hat.
Gleichzeitig ist es ihr gelungen, eine Fragmentierung im Euroraum zu verhindern, ohne dabei die disziplinierende Wirkung der Finanzmärkte auszuhebeln. In Zukunft ist in erster Linie die Fiskalpolitik gefordert, die Unabhängigkeit der Zentralbank zu schützen, indem sie die fiskalische Konsolidierung im Einklang mit den neuen europäischen Fiskalregeln vorantreibt, ohne dabei Investitionen zu vernachlässigen, die zwingend erforderlich sind, um zukünftige Herausforderungen zu meistern.
Entschlossene geldpolitische Reaktion widerspricht These der fiskalischen Dominanz
Die entschlossene geldpolitische Reaktion auf den stärksten Anstieg der Inflation seit Beginn der Währungsunion belegt eindrücklich, dass die EZB keineswegs von ihrem Mandat der Preisstabilität abgerückt ist, wie es die These der fiskalischen Dominanz vorhersagen würde.
Innerhalb von nur 14 Monaten erhöhte die EZB die Zinsen in teilweise großen Schritten um insgesamt 4,5 Prozentpunkte (Folie 3, linke Seite). Zudem begann sie, die Bilanz rasch zu reduzieren, vor allem durch das Auslaufen der gezielten längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte (Targeted Longer-Term Refinancing Operations, TLTROs), aber auch durch die Beendigung der Nettokäufe und schließlich der Reinvestitionen bei den Anleihekaufprogrammen (Folie 3, rechte Seite).
Kritiker könnten einwenden, dass die Reaktion der Geldpolitik zunächst zu zögerlich war. Erst zwölf Monate nachdem die Inflation unser Ziel von 2 % überschritten hatte, wurden die Zinsen im Juli 2022 erstmals angehoben.
Allerdings sind bei dieser Kritik zwei Aspekte zu beachten.
Zum einen wurde die geldpolitische Wende bereits im Dezember 2021 mit der Ankündigung der Beendigung der Nettoanleihekäufe unter dem Pandemie-Notfallankaufprogramm (Pandemic Emergency Purchase Programme, PEPP) eingeleitet.[2] Die Straffung der Finanzierungsbedingungen setzte daher deutlich vor der ersten Zinserhöhung ein (Folie 4).
Zum anderen muss die zunächst abwartende Haltung vor dem Hintergrund der Erfahrung eines Jahrzehnts sehr niedriger Inflation und der erhöhten Unsicherheit aufgrund wiederkehrender Pandemiewellen gesehen werden.
Nur allmählich setzte sich in den Zentralbanken die Überzeugung durch, dass die wiederholten Fehler in den Inflationsprognosen auf einen nachhaltigen Inflationsschub hindeuteten, auf den die Geldpolitik mit Nachdruck reagieren musste.
Den entscheidenden Beleg für die Glaubwürdigkeit der EZB liefert die Entwicklung der längerfristigen Inflationserwartungen.[3]
Zunächst hatte die EZB den Anstieg der Inflationserwartungen in Richtung des Inflationsziels von 2 % begrüßt (Folie 5, linke Seite). Allerdings schossen die Inflationserwartungen bald über dieses Ziel hinaus, und sowohl markt- als auch umfragebasierte Maße deuteten darauf hin, dass das Risiko einer Entankerung zunahm. So erwartete zeitweise ein signifikanter Anteil der Befragten in Umfragen mittelfristige Inflationsraten deutlich oberhalb des Inflationsziels (Folie 5, rechte Seite).
Inzwischen sind die Erwartungen jedoch in die Nähe unseres mittelfristigen Ziels von 2 % zurückgekehrt. Die weitgehende Stabilität der längerfristigen Inflationserwartungen widerspricht der These der fiskalischen Dominanz. Sie legt vielmehr nahe, dass unsere geldpolitische Reaktion das Vertrauen von Haushalten, Unternehmen und Marktteilnehmern in unsere Entschlossenheit gestärkt hat, die Inflation nachhaltig auf unser Ziel von 2 % zurückzuführen.
Dies war aus geldpolitischer Sicht ein beachtlicher Erfolg und hat dazu beigetragen, dass wir gestern die Zinsen erstmals um 25 Basispunkte senken konnten. Noch ist der Ausblick über die zukünftige Inflationsentwicklung allerdings zu unsicher, um weitere Zinsschritte in Aussicht stellen zu können.
Renditedifferenzen reflektieren Fundamentalfaktoren und Risikobereitschaft
Der massive Anstieg der EZB-Zinsen ging nicht mit einem dauerhaften Anstieg der Renditedifferenzen zwischen den Mitgliedstaaten einher (Folie 6, linke Seite). Dies wird von manchen Beobachtern als Hinweis auf fiskalische Dominanz interpretiert. Die EZB halte die Risikoprämien künstlich niedrig, indem sie gezielt in die Anleihen einzelner hochverschuldeter Länder investiere, und untergrabe damit die fiskalische Disziplin. Mittelfristig führe dies zu fiskalischer Dominanz und erhöhter Inflation.
Zunächst ist festzustellen, dass für alle Mitgliedstaaten die Renditen für Staatsanleihen im Zuge der Zinswende stark angestiegen sind (Folie 6, rechte Seite). Im Schnitt liegen die Renditen 10-jähriger Staatsanleihen im Euroraum heute rund drei Prozentpunkte höher als unmittelbar vor der Pandemie. Dieser spürbare Anstieg setzt deutliche Anreize in allen Mitgliedstaaten, die Staatsverschuldung zu begrenzen.
Der Renditeanstieg ging im Wesentlichen auf den Anstieg der Zinserwartungen und Laufzeitprämien zurück, während die Risikoaufschläge für Ausfallrisiken – hier gemessen anhand von Credit Default Swaps – bemerkenswert stabil blieben oder sogar leicht zurückgegangen sind (Folie 7, linke Seite).
Es gibt verschiedene Faktoren, welche die niedrigen Renditedifferenzen der Staatsanleihen erklären können.
Der wichtigste Faktor ist die vergleichsweise gute ökonomische Entwicklung der höher verschuldeten Volkswirtschaften. So ist die Wachstumsschwäche im „sicheren Hafen“ Deutschland besonders ausgeprägt, während frühere Krisenländer sich deutlich besser entwickelt haben (Folie 7, rechte Seite).
Höheres langfristiges Wachstum stützt die Schuldentragfähigkeit. Für die Höhe der Risikoaufschläge ist daher die Differenz aus Zinsen und Wachstum (r-g) entscheidend.
Die erfreuliche wirtschaftliche Entwicklung in Teilen des Euroraums ist nicht zuletzt Ausdruck jahrelanger Kraftanstrengungen, die Widerstandsfähigkeit und wirtschaftliche Dynamik nach der Staatsschuldenkrise zu stärken.
Auch die als Reaktion auf die Pandemie ergriffenen europäischen Fiskalmaßnahmen – insbesondere das Programm Next Generation EU (NGEU) – dürften eine wichtige Rolle gespielt haben.
Zum einen profitieren höher verschuldete Länder stärker von den NGEU-Mitteln, was die Konvergenz im Euroraum über eine Steigerung des Potenzialwachstums in diesen Ländern längerfristig fördern sollte.
Zum anderen war NGEU ein starker Vertrauensbeweis der Handlungsfähigkeit Europas. NGEU ist ein Symbol dafür, dass Europa Krisen gemeinsam und entschlossen meistern kann. Dies dürfte das Risiko einer Fragmentierung des Euroraums dauerhaft gesenkt haben – und damit die Höhe der Renditedifferenzen.
Zweitens sind für die zukünftige Zinslast die durchschnittlichen Renditen entscheidend, nicht allein die aktuellen Zinsen.
Viele Regierungen haben sich vor der Pandemie durch die Ausgabe langfristiger Staatsanleihen niedrige Zinsen gesichert. So stieg die durchschnittliche Laufzeit der Staatsanleihen der Euro-Länder von rund 6 auf 8 Jahre (Folie 8, linke Seite).
Ein beachtlicher Teil der ausstehenden Schulden ist also weiterhin relativ niedrig verzinst (Folie 8, rechte Seite).
Ein dritter wichtiger Faktor für die geringen Risikoprämien ist schließlich die derzeit hohe Risikobereitschaft der Investoren an den globalen Finanzmärkten.[4]
So sind die Risikoaufschläge für europäische Unternehmensanleihen seit Beginn der geldpolitischen Straffung stark gefallen, während die Aktienmärkte einen Boom erlebten, der ebenfalls vor allem durch den Rückgang der Risikoprämien getrieben wurde (Folie 9).
Teilweise dürfte die Resilienz der Vermögenspreise auf die weiterhin hohe Überschussliquidität im Markt zurückzuführen sein. Die EZB und andere Zentralbanken gehen beim Bilanzabbau bewusst graduell und vorsichtig vor, da ein zu schneller Abbau zu Verwerfungen an den Märkten führen könnte.
Derartige Erwägungen, welche die Handlungsfreiheit der Zentralbank beschränken können, müssen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung sorgfältig geprüft werden, wenn Anleihekäufe als geldpolitisches Instrument in Betracht gezogen werden.[5]
Der EZB ist es gelungen, den Abbau des Anleiheportfolios mithilfe eines graduellen und klar kommunizierten Pfads reibungslos einzuleiten, was nicht zuletzt den günstigen Marktbedingungen geschuldet war.
So ist in jüngster Vergangenheit das Rekordvolumen an Staatsanleiheemissionen an den Finanzmärkten auf eine kräftige Nachfrage getroffen. Die sogenannten Bid-to-cover ratios, ein Maß für das Verhältnis von Nachfrage zu Angebot an den Anleihemärkten, sind seit Anfang 2023 kontinuierlich angestiegen (Folie 10).
So waren Investoren angesichts des vermuteten Zinsgipfels darauf bedacht, sich die attraktiven Renditen langfristig zu sichern. Während das Eurosystem seine Präsenz auf den Märkten für Staats- und Unternehmensanleihen reduzierte, kehrten insbesondere ausländische Investoren zurück, da die Renditen im Euroraum erheblich attraktiver geworden waren (Folie 11).[6] In einigen Mitgliedstaaten spielten zudem inländische Haushalte eine wichtige Rolle als Käufer von Staatsanleihen.
Der Rückzug der EZB aus den Anleihekäufen wurde somit durch günstige gesamtwirtschaftliche und globale Faktoren unterstützt.
Gleichmäßige Transmission der Geldpolitik unterstützt Preisstabilität
Allerdings war ein derart reibungslos verlaufender Zinszyklus im Juni 2022, als der EZB-Rat seine Absicht angekündigt hatte, die Zinsen bei der nächsten geldpolitischen Sitzung erstmals anheben zu wollen, nicht absehbar. So kam es kurz nach der geldpolitischen Sitzung zu starken Bewegungen an den Anleihemärkten.[7]
Auslöser dieser Dynamik war die Sorge, dass sich die Inflation verfestigen könnte, ausgelöst durch schlechte Inflationsdaten aus den USA, was dort zu einem drastischen Renditeanstieg führte – beispielsweise um rund 70 Basispunkte bei den zweijährigen Staatsanleihen innerhalb einer Woche. Die Marktturbulenzen waren somit keineswegs auf den Euroraum beschränkt.
Jedoch birgt die Architektur des Euroraums ein besonderes Risiko sich selbst verstärkender Zinsdynamiken. Da Anleger in kürzester Zeit Gelder aus einem Teil der Währungsunion in einen anderen Teil, der als sicherer Hafen gilt, transferieren können, ohne dabei ein Währungsrisiko einzugehen, kann die Kombination aus nationaler Fiskalpolitik und europäischer Geldpolitik in Zeiten hoher Unsicherheit zu plötzlichen Zinsspiralen an den Anleihemärkten führen.
Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, dass solche Zinsspiralen die einheitliche Geldpolitik unmöglich machen können. Wenn die Renditen der Staatsanleihen verschiedener Mitgliedstaaten abrupt auseinanderlaufen, kann eine gleichmäßige Transmission der Geldpolitik über den gesamten Euroraum nicht mehr sichergestellt werden.
Im damaligen Umfeld hätten die notwendigen Zinsschritte also in Teilen des Euroraums zu unverhältnismäßig hohen Zinsanpassungen führen können.
Als Reaktion auf diese Marktturbulenzen kündigte die EZB im Juli 2022 das Instrument zur Absicherung der Transmission (Transmission Protection Instrument, TPI) an.[8] Es zielt darauf ab, die gleichmäßige Transmission der Geldpolitik zu sichern, indem es ungeordneten und nicht durch Fundamentaldaten gerechtfertigten Marktbewegungen entgegenwirken soll.
Das Programm stellt klare Bedingungen für den Ankauf von Anleihen eines Mitgliedstaats. Diese sollen sicherstellen, dass das Programm nur in Ländern mit einer soliden und nachhaltigen fiskalischen und makroökonomischen Politik eingesetzt wird.
Das TPI ist daher nicht einfach eine Weiterführung der Flexibilität des PEPP, das während der Pandemie die Möglichkeit vorsah, Anleihekäufe flexibel über die Zeit, Anlageklassen und Länder zu tätigen. Diese Flexibilität wurde zu Beginn der Pandemie und zu Beginn des Zinserhöhungszyklus vorübergehend genutzt, um ungeordneten Preisbewegungen entgegenzuwirken. Die Abweichungen vom Kapitalschlüssel der EZB blieben jedoch begrenzt.
Vermutungen, dass die EZB ihre Anleihekäufe permanent in bestimmte Richtungen verzerrt hätte, sind unbegründet. Vorübergehende Schwankungen im Kapitalschlüssel waren häufig technisch bedingt und summierten sich beispielsweise für Italien und Frankreich über das gesamte Kalenderjahr 2023 auf null (Folie 12).[9]
Das TPI ist hingegen ein neues Instrument im Werkzeugkasten der EZB. Seine zielgerichtete Ausrichtung und Konditionalität sorgen dafür, dass auch in Zeiten erhöhter Unsicherheit und Volatilität die gleichmäßige Transmission der Geldpolitik gewährleistet ist, sodass die Geldpolitik ihrer zentralen Aufgabe – der Wahrung der Preisstabilität – nachgehen kann.[10]
Denn durch die bloße Ankündigung möglicher Interventionen oder gegebenenfalls durch eine gezielte, temporäre Intervention kann die Zentralbank schnell das Vertrauen wiederherstellen und destabilisierende Zinsspiralen im Keim ersticken, die den Euroraum ansonsten in eine schwere Krise stürzen könnten.
Insofern ist das TPI Ausdruck monetärer und nicht fiskalischer Dominanz. So dürfte die Ankündigung des TPI eine wesentliche Voraussetzung dafür gewesen sein, dass die EZB die Zinsen in einem solch starken Maße erhöhen und so eine Entankerung der Inflationserwartungen verhindern und die Preisstabilität sichern konnte.
Unter dem TPI kann die EZB persistenten durch Fundamentaldaten begründeten Marktverwerfungen nicht begegnen. Sie könnte dies nur in Kombination mit einem makroökonomischen Anpassungsprogramm unter dem OMT-Programm (Outright Monetary Transactions) tun.
Diese Vorkehrungen sorgen dafür, dass die disziplinierende Wirkung der Märkte erhalten bleibt. Im Rahmen des TPI gibt es kein Zinsniveau, das abgesichert wird. Dieses wird am Markt bestimmt. Die merklich unterschiedlichen Staatsanleiherenditen über Länder des Euroraums hinweg reflektieren ja gerade unterschiedliche Fundamentalfaktoren. Das TPI unterbindet lediglich ungeordnete Dynamiken, die die Preisfindung am Markt temporär unmöglich machen. Der Anreiz für solides Haushalten bleibt daher erhalten.
Fiskaldisziplin und Strukturreformen sind bester Schutz vor fiskalischer Dominanz
Den besten Schutz vor fiskalischer Dominanz bietet somit eine zukunftsorientierte Fiskalpolitik. Genau deshalb sehen die EU-Verträge ein fiskalisches Regelwerk vor, das die Unabhängigkeit der Zentralbank dauerhaft sichert.
In der Zukunft dürften die Herausforderungen für die Fiskalpolitik eher wachsen.
Solange die Renditen neu ausgegebener Staatsanleihen über den durchschnittlichen Renditen der ausstehenden Schulden liegen, steigt die Zinslast. So wird sich eine anhaltende Periode hoher Zinsen graduell auf die Zins-Wachstums-Differenz (r-g) auswirken, die neben der Entwicklung der Primärsalden des Staates maßgeblich für die Entwicklung der Schuldenquote ist (Folie 13, linke Seite).[11]
Ob (r-g) mittelfristig zur Belastung wird, hängt maßgeblich davon ab, wie die Fiskalpolitik die Vielzahl struktureller Herausforderungen angehen wird, denen sich unsere Volkswirtschaften ausgesetzt sehen.
Eine alternde Gesellschaft, die Notwendigkeit höherer Verteidigungsausgaben angesichts der veränderten geopolitischen Lage sowie die grüne und digitale Transformation bedingen hohe zusätzliche öffentliche Belastungen.
Der massive Investitionsbedarf, der zur Bewältigung all dieser Herausforderungen erforderlich ist, legt nahe, dass die Zeiten sehr niedriger Zinsen auch mittel- bis langfristig vorbei sein dürften.[12]
Daher braucht es eine Politik, die einerseits konjunkturell günstige Zeiten zur Konsolidierung nutzt, andererseits aber notwendige Investitionen priorisiert und durch Strukturreformen flankiert.
Das neue europäische fiskalische Rahmenwerk sieht genau eine solche Balance vor.
Allerdings geben aktuelle Prognosen Grund zur Besorgnis. So werden die strukturellen Primärsalden in den Jahren 2024-2025 voraussichtlich deutlich unter den Niveaus bleiben, die vor der Pandemie erzielt wurden, und somit Aufwärtsdruck auf die Staatsverschuldung ausüben (Folie 13, rechte Seite). Ein Grund hierfür ist, dass manche staatliche Stützungsmaßnahmen, die in den Krisenjahren ergriffen wurden, nicht vollständig zurückgenommen wurden.
Das Ausbleiben fiskalischer Konsolidierung trotz hoher Schuldenstände steht den Bemühungen der Geldpolitik im Weg und erhöht das Risiko fiskalischer Dominanz.[13]
Ebenso wichtig sind allerdings Maßnahmen zur Stärkung des langfristigen Wachstums.
Europa spielt hierbei eine zentrale Rolle. Es birgt nach wie vor erhebliche unausgeschöpfte Wachstumspotenziale. So könnte eine stärkere Integration des Binnenmarkts für Dienstleistungen die Produktivität ebenso erhöhen wie die dringend notwendigen Fortschritte bei der Banken- und Kapitalmarktunion.
NGEU kann diesen Prozess begleiten. Allerdings ist bislang ungewiss, ob dieses Programm die hohen Erwartungen erfüllen kann, die an es gestellt wurden. Eine erfolgreiche Evaluierung des Programms wird vermutlich darüber entscheiden, ob es zu gegebener Zeit ein Nachfolgeprogramm auf europäischer Ebene geben kann.
Zugleich sind Strukturreformen zur Verbesserung der Arbeitsmobilität, zur Steigerung der Erwerbsbeteiligung, zur lebenslangen Bildung und zur Ausschöpfung des Potenzials neuer Technologien wie der künstlichen Intelligenz essenziell.
Gerade bei der Informations- und Kommunikationstechnologie hinken zahlreiche im Euroraum ansässige Unternehmen der globalen Entwicklung hinterher.[14]
Reformen, die das Produktionspotenzial erhöhen, würden nicht nur die Schuldenreduktion erleichtern, sie würden langfristig auch den Druck auf die Inflation verringern. Dies ist umso wichtiger in Zeiten der drohenden Deglobalisierung und des Klimawandels, in denen die europäische Volkswirtschaft häufiger angebotsseitigen Schocks ausgesetzt sein dürfte.
Fazit
Somit komme ich zu dem Schluss, dass die Geldpolitik in den vergangenen Jahren nicht durch die Fiskalpolitik dominiert wurde und dass die Handlungsfreiheit der Geldpolitik stets gewährleistet war.
Die entschlossene Reaktion der Geldpolitik auf den starken Anstieg der Inflation und die Verankerung der Inflationserwartungen trotz zweistelliger Inflationsraten zeigen, dass die Geldpolitik ihr Ziel der Preisstabilität unbeirrt verfolgt hat und dass es gelungen ist, das Vertrauen in die Geldpolitik zu wahren.
Das TPI hat dazu maßgeblich beigetragen, indem es eine reibungslose Transmission sicherstellte und damit Voraussetzung dafür war, das Inflationsproblem entschlossen angehen zu können. Selbstverstärkende Zinsspiralen stehen dem Ziel der Preisstabilität entgegen. Dabei stellt die Ausgestaltung des Programms sicher, dass die disziplinierende Wirkung der Finanzmärkte nicht untergraben wird.
In den kommenden Jahren ist eine zukunftsorientierte Fiskalpolitik die zwingende Voraussetzung für die Wahrung der Unabhängigkeit der Geldpolitik. Eine fiskalische Konsolidierung im Einklang mit den neuen europäischen Fiskalregeln bei gleichzeitiger Priorisierung von Zukunftsinvestitionen ist unabdingbar, um langfristiges Wachstum und Preisstabilität zu sichern.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Siehe auch I. Schnabel, The shadow of fiscal dominance: Misconceptions, perceptions and perspectives, Rede beim Centre for European Reform and the Eurofi Financial Forum zum Thema „Is the current ECB monetary policy doing more harm than good and what are the alternatives?“, 11. September 2020.
EZB, Erklärung zur Geldpolitik, 16. Dezember 2021.
Siehe R. Reis, What can keep euro area inflation high?, Economic Policy, Bd. 38, Ausgabe115, 14. November 2023. Siehe auch F. Bianchi und L. Melosi, Inflation as a Fiscal Limit, Working Paper der Federal Reserve Bank of Chicago, Nr. 2022-37, August 2022; J. Cochrane, The Fiscal Theory of the Price Level, Princeton University Press, 2022.
Siehe EZB, Financial Stability Review, Mai 2024.
Siehe I. Schnabel, The benefits and costs of asset purchases, Rede bei der 2024 IMES Conference der Bank of Japan zum Thema „Price Dynamics and Monetary Policy Challenges: Lessons Learned and Going Forward“, 28. Mai 2024.
EZB, Who buys bonds now? How markets deal with a smaller Eurosystem balance sheet, Der EZB-Blog, 22. März 2024.
Siehe I. Schnabel, United in diversity – Challenges for monetary policy in a currency union, Rede vor Absolventen des Master-Studiengangs Geld-, Bank-, Finanz – und Versicherungswesen der Universität Panthéon-Sorbonne, Paris, 14. Juni 2022.
Siehe EZB, The Transmission Protection Instrument, Pressemitteilung vom 21. Juli 2022.
Siehe hierzu auch The dynamics of PEPP reinvestments, Der EZB-Blog, 13. Februar 2024.
Siehe I. Schnabel, Finding the right mix: monetary-fiscal interaction at times of high inflation, Rede bei der Bank of England Watchers’ Conference, 24. November 2022.
Siehe O. Blanchard, Public Debt and Low Interest Rates, American Economic Review, Bd. 109, Nr. 4, 2019, S. 1197-1229.
Siehe I. Schnabel, R(ising) star?, Rede bei der The ECB and its Watchers XXIV Conference, session on: Geopolitics and Structural Change: Implications for Real Activity, Inflation and Monetary Policy, 20. März 2024
Nach der Fiskaltheorie des Preisniveaus wird die Inflation durch die Fiskalpolitik bestimmt. Siehe E. Leeper, Equilibria under ‘active’ and ‘passive’ monetary and fiscal policies, Journal of Monetary Economics, Bd. 27, Ausgabe 1, 1991, S. 129-147; C. Sims, A Simple Model for Study of the Determination of the Price Level and the Interaction of Monetary and Fiscal Policy, Economic Theory, Bd. 4, 1994, S. 381-399; J. Cochrane, Money as stock, Journal of Monetary Economics, Bd. 52, Ausgabe 3, 2005, S. 501-528; T. Sargent und N. Wallace, Some Unpleasant Monetarist Arithmetic, Federal Reserve Bank of Minneapolis Quarterly Review, Herbst ,1981, S. 1-17.
Siehe I. Schnabel, From laggard to leader? Closing the euro area’s technology gap, Vortrag zur Eröffnung des EMU Lab am European University Institute, 16. Februar 2024.
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