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Christine Lagarde
The President of the European Central Bank
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Neue Herausforderungen in einer Welt im Wandel

Rede von Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, beim Neujahrsempfang der Deutschen Börse in Eschborn

Eschborn, den 23. Januar 2023

Einleitung

Vielen Dank für die Einladung nach Eschborn. Es freut mich, gemeinsam mit Ihnen einen Blick ins neue Jahr zu werfen.

Ein neuer Anfang bedeutet nicht selten auch neue Herausforderungen, er eröffnet uns aber auch zahlreiche Chancen. Über diese Konstellation aus Herausforderungen und Chancen möchte ich heute sprechen.

Bei Betrachtung der aktuellen Lage der Weltwirtschaft muss ich an Bertold Brecht denken, an diese Wort von ihm: „Weil die Dinge sind, wie sie sind, werden die Dinge nicht so bleiben wie sie sind.“

Die Weltwirtschaft befindet sich an einem Scheidepunkt. Im vergangenen Jahr zeichnete sich langsam eine „neue Weltkarte“ der Wirtschaftsbeziehungen ab. Eine, in der die Geopolitik die Weltwirtschaft zunehmend beeinflusst.[1]

Dies hat wiederum bedeutende Auswirkungen auf Europa, was das Jahr 2023 prägen wird.

Eine Welt im Wandel

Bei der eben erwähnten Landkarte spielen drei Faktoren, die miteinander verbunden sind, eine bestimmende Rolle: Schocks, Angebot und Sicherheit.

Die Idee einer offenen globalen Handelsordnung verliert an Unterstützern, daher ist die Weltwirtschaft mit neuen Arten von Schocks konfrontiert. In den vergangenen Jahrzehnten hat der offene Handel das Wachstum auf der ganzen Welt gestützt, da die Länder im Fall von Störungen auf andere Quellen ausweichen konnten.[2] Nun könnte der offene Handel allerdings der Volatilität Vorschub leisten.

Der Grund hierfür ist, dass die Zunahme des internationalen Freihandels und die damit einhergehende Stabilität immer darauf beruhte, dass ein globaler Hegemon dahinter stand. Dies war während der Zeit des britischen Empires im 19. Jahrhundert der Fall und galt auch in der Zeit nach dem Kalten Krieg für die Unterstützung durch die Vereinigten Staaten.[3]

Heutzutage setzen große Volkswirtschaften – allen voran die Vereinigten Staaten und China – vermehrt darauf, mithilfe von Handel die Ambitionen von geopolitischen Rivalen zu beschränken. Das könnte zu einer Fragmentierung des Welthandels führen, was mit gewaltigen Kosten verbunden sein könnte. Laut Schätzung des IWF würde eine schwerwiegende Fragmentierung des Handels auf lange Sicht etwa 7 % der globalen Wirtschaftsleistung kosten. Dies entspricht in etwa der jährlichen Wirtschaftsleistung von Japan und Deutschland.[4]

Diese geopolitischen Winde sorgen beim zweiten Merkmal dieser neuen Landkarte, dem Angebot, für eine Umorientierung. Wir beobachten, dass der Standort von Lieferanten bei strategischen Überlegungen eine immer wichtigere Rolle spielt.

So zielt z. B. das US-Gesetz zur Verringerung der Inflationsrate bewusst darauf ab, die Produktion in die Vereinigten Staaten zurückzuverlagern und dadurch ihre Abhängigkeit bei strategischen Importgütern (wie z. B. Batterien) zu verringern.[5] Auch China ist bestrebt, unabhängiger vom Rest der Welt zu werden. Einige Studien legen nahe, dass sogar Unternehmen in nicht strategischen Sektoren zunehmend darauf aus sind, ihre Lieferketten stärker regional auszurichten.[6]

Das ist eine gute Überleitung zum dritten Merkmal der Landkarte: Sicherheit wird immer wichtiger. Angesichts der Tatsache, dass die Verfügbarkeit von kritischen Vorleistungsgütern heute nicht mehr selbstverständlich ist, steht uns vermutlich ein neuer „Wettlauf um Ressourcen“ bevor.

Die ungerechtfertigte Invasion Russlands in der Ukraine hat Liefersicherheit, vor allem im Bereich Energie, für alle großen Volkswirtschaften wieder zu einem zentralen Thema gemacht. Längerfristig dürfte dies auch den globalen Übergang zur Produktion von sauberer Energie beschleunigen, denn es ist eine Möglichkeit zur Steigerung von Klima- und Energiesicherheit.

In ihrer Implementierungsphase sind die hierzu erforderlichen Technologien äußerst ressourcenintensiv. Wollte man die Weltwirtschaft auf einen Weg bringen, mit dem die Ziele des Pariser Abkommens erreicht werden können, so könnte dies dazu führen, dass sich der Gesamtbedarf an für Technologien für saubere Energie verwendeten Mineralien bis 2040 vervierfacht.[7] Dadurch droht eine neue Ära des Wettbewerbs um Ressourcen.

Die diesjährigen Herausforderungen für Europa

Diese neue Weltkarte nimmt derzeit Gestalt an. Somit warten 2023 drei große Herausforderungen auf uns.

Die erste besteht darin, dass wir uns Gedanken dazu machen müssen, wie wir die kritischen Interessen Europas in einer sich rasch wandelnden Welt bestmöglich schützen können. Da die europäische Wirtschaft sehr offen für Handel und tief in globale Lieferketten eingebettet ist, trifft uns geopolitischer Gegenwind hart. Beispielsweise gehen 35 % der Produktion unseres verarbeitenden Gewerbes in Länder außerhalb der EU. Dieser Wert ist deutlich höher als bei den Vereinigten Staaten oder China.

Das nächste Kapitel der Geschichte der Globalisierung wird derzeit geschrieben. Nun ist es an uns, dafür zu sorgen, dass Europa dabei eine Führungsrolle spielt und nicht nur anderen folgt. Wie der französische Präsident und der deutsche Bundeskanzler unlängst bekundeten, haben wir das Zeug dazu.[8]

Für 80 Länder ist Europa bereits heute der wichtigste Handelspartner. Im Fall der Vereinigten Staaten trifft dies nur auf gut 20 Länder zu.[9] Dadurch besitzen wir eine einzigartige Verhandlungsposition, um für Offenheit zugunsten Europas zu werben und unsere Beziehungen zu wichtigen Partnern zu stärken. Dazu zählen z. B. jene Länder, auf die wir bei wichtigen Ressourcen setzen.

Dort, wo wir unsere Interessen bedroht sehen, können wir unser wirtschaftliches Gewicht strategischer einsetzen. Dies war bei den beispiellosen Sanktionen gegen Russland bereits der Fall.

Wir müssen aber auch auf eine Zukunft vorbereitet sein, in der es zu einer Fragmentierung der Weltwirtschaft kommt. Und die beste Methode, um sich gegen eine zunehmend unsichere Welt zu wappnen, ist die Stärkung der eigenen Widerstandsfähigkeit. Daher liegt die zweite Herausforderung für Europa darin, mehr eigene Wachstumsquellen zu entwickeln.

Hier bietet sich Europa angesichts der neuen Weltkarte eine Chance.

Da Energiesicherheit zu einer zwingenden Notwendigkeit wird, können wir den klimabezogenen Investitionsbedarf – vor allem im Bereich saubere Energie – in den Mittelpunkt unseres Wachstumsmodells stellen und so die Binnennachfrage stärken. Dieser Investitionsbedarf wird bis 2030 im Durchschnitt bei knapp 500 Milliarden Euro pro Jahr liegen.[10]

Wir können den grünen Wandel auch dazu nutzen, die Digitalisierung der europäischen Wirtschaft voranzutreiben, denn die weltweiten Emissionen ließen sich bis 2050 mithilfe digitaler Technologien um ein Fünftel senken.[11] Dies könnte das Produktivitätswachstum steigern und mit dazu beitragen, dass grüne Investitionen keinen übermäßigen Druck auf die Preise ausüben.

Doch die Zielsetzung dieses neuen Wachstumsmodells wird enorme finanzielle Mittel erforderlich machen. Und hier kann der Finanzsektor eine entscheidende Rolle spielen, sofern politische Maßnahmen ergriffen werden, die dies ermöglichen.

Die Vollendung der europäischen Kapitalmarktunion wird für die Finanzierung des grünen und des digitalen Wandels von entscheidender Bedeutung sein. Eigenkapitalgeber sind in der Regel eher bereit als Banken, Geld in Projekte mit hohem Risiko und hoher Rendite zu investieren. Zudem sorgt die Finanzierung über Eigenkapital tendenziell für mehr grüne Innovationen.[12] Diesbezüglich wird jedoch die vollständige und rasche Umsetzung des Aktionsplans der Kommission zur Schaffung einer Kapitalmarktunion entscheidend sein.

Derzeit sind einige Fortschritte zu verzeichnen. Die Kommission hat unlängst Vorschläge zur Harmonisierung der nationalen Insolvenzvorschriften und zur Vereinfachung von Börsengängen vorgelegt. Außerdem befasst sie sich mit Themen, die bis dato das Wachstum der europäischen Kapitalmärkte gehemmt haben; so setzt sie sich beispielsweise für die steuerliche Gleichbehandlung der Finanzierung mit Eigenkapital und der Finanzierung mit Fremdkapital ein. Auch die vor Kurzem erzielte Einigung Europas auf einen Mindeststeuersatz für Großunternehmen wird die Steuerharmonisierung innerhalb der EU fördern. Dass es diesen bislang nicht gab, wurde oftmals als Hindernis für die Kapitalmarktintegration angesehen.[13]

Die dritte große Herausforderung für Europa ist das von hoher Inflation geprägte Umfeld. Und dies ist selbstredend die Herausforderung, die mich persönlich am meisten beschäftigt.

Die Inflation in Europa ist viel zu hoch. Zum Teil ist dies auf unsere Anfälligkeit in Bezug auf die sich verändernden geopolitischen Gegebenheiten in Sachen Energie zurückzuführen. Die Abkopplung von Russland im letzten Jahr hat die Energiepreisinflation im Euroraum auf ein außerordentlich hohes Niveau getrieben.

Doch während sich der Preisauftrieb bei Energie in jüngster Zeit verringert hat, steigt die zugrunde liegende Inflation weiter an. Angesichts dessen ist es äußerst wichtig, dass über dem 2 %-Ziel der EZB liegende Inflationsraten sich nicht in der Wirtschaft verfestigen.

Wir müssen die Inflation senken. Und wir werden dieses Ziel erreichen.

In weniger als einem halben Jahr haben wir die EZB-Leitzinsen um 250 Basispunkte angehoben. Das ist die schnellste Erhöhung in der Geschichte der EZB. Und wir haben keinen Zweifel daran gelassen, dass unsere Leitzinsen noch deutlich und in einem gleichmäßigen Tempo steigen müssen, auf ein ausreichend restriktives Niveau. Und auf diesem Niveau müssen sie so lange wie erforderlich bleiben.

Mit anderen Worten: Wir werden auf Kurs bleiben, um sicherzustellen, dass die Inflation zeitnah auf unseren Zielwert zurückkehrt.

Schlussbemerkungen

Lassen Sie mich nun zum Schluss meiner Ausführungen kommen.

Den Jahreswechsel verbinden wir traditionell mit einer Zeit des Innehaltens, einer Zeit, in der wir die Ereignisse des letzten Jahres Revue passieren lassen. Doch wie schrieb Rainer Maria Rilke einst: Ein neues Jahr ist „voll nie gewesener Dinge“.

Und so gilt zu Beginn des Jahres 2023: Eine Welt im Wandel birgt neue Herausforderungen, sie eröffnet aber auch Chancen. Ich bin mir ganz sicher: Mit mehr Selbstbewusstsein und mehr Durchsetzungskraft sowie den richtigen Maßnahmen zur Förderung von grünem und digitalem Wachstum kann Europa sich anpassen und gedeihen.

Manche Dinge ändern sich allerdings nie, nämlich das Bekenntnis der EZB zu Preisstabilität. Wir werden unsere Rolle im nächsten Kapitel Europas spielen, indem wir die Inflation auf unseren Zielwert von 2 % zurückbringen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

  1. Siehe C. Lagarde, A new global map: European resilience in a changing world, Grundsatzrede beim Peterson Institute for International Economics, 22. April 2022.

  2. C. Lagarde, Globalisation after the pandemic, Per Jacobsson Lecture bei der IWF-Jahrestagung, 16. Oktober 2021.

  3. Diese Ansicht wird für gewöhnlich mit dem Wirtschaftshistoriker Charles P. Kindleberger in Zusammenhang gebracht. Sein im Original im Jahr 1973 erschienenes Buch „Die Weltwirtschaftskrise“ entwickelte sich zu einem Katalysator für das, was man heute als „Theorie der hegemonialen Stabilität“ kennt. Eine kurze Abhandlung findet sich in The Economist, Railroads and hegemons, 10. Oktober 2013.

  4. K. Georgieva, Confronting Fragmentation Where It Matters Most: Trade, Debt, and Climate Action, 16. Januar 2023. Siehe auch S. Aiyar et al. Geoeconomic Fragmentation and the Future of Multilateralism, IMF Staff Discussion Notes, SDN/ 2023/001, 15. Januar 2023.

  5. The White House, Fact sheet: How the Inflation Reduction Act Will Help Small Businesses, 12. September 2022.

  6. Einer aktuellen Studie zufolge ist der Anteil der Unternehmen, die beabsichtigen, ihre Lieferketten stärker regional auszurichten, von 25 % (April 2021) auf 45 % (April 2022) gestiegen. Siehe McKinsey, Taking the pulse of shifting supply chains, 26. August 2022.

  7. International Energieagentur, The Role of Critical Minerals in Clean Energy Transitions, World Energy Outlook Special Report, überarbeitete Fassung, März 2022.

  8. E. Macron und O. Scholz, Deutschland und Frankreich – Unser Europa für die nächste Generation gestalten, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Januar 2023.

  9. Europäische Kommission, EU position in world trade.

  10. Europäische Kommission, Strategie zur Finanzierung einer nachhaltigen Wirtschaft, COM(2021) 390 final, 6. Juli 2021.

  11. Weltwirtschaftsforum, Digital solutions can reduce global emissions by up to 20%, 23. Mai 2022.

  12. R. De Haas und A. Popov, Finance and carbon emissions, Working Paper Series der EZB, Nr. 2318, September 2019; A. Popov, Does financial structure affect the carbon footprint of the economy?, Financial Integration and Structure in the Euro Area, März 2020.

  13. Europäischer Rat, International taxation: Council reaches agreement on a minimum level of taxation for largest corporations”, 12. Dezember 2022.

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