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Einige Lehren aus der Finanzmarktkorrektur

Rede von Jean-Claude Trichet, Präsident der EZB
im Rahmen der Verleihung des Preises
„European Banker of the Year 2007“
am 30. September 2008 in Frankfurt am Main

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

die Auszeichnung „European Banker of the Year 2007“ zu erhalten, empfinde ich als große Wertschätzung. Ich freue mich sehr über diesen Preis und danke Ihnen dafür, dass Sie mir diese Ehre zuteil werden lassen. Mein herzlicher Dank geht auch an Jean-Claude Juncker für seine freundlichen Worte. Aus all diesen Gründen bin ich sehr bewegt.

Erlauben Sie mir zunächst einige Gedanken zu den Ausführungen meines Vorredners Jean-Claude Juncker. In der Tat haben die Turbulenzen an den globalen Finanzmärkten im letzten Jahr Finanzinstitute, Anleger, Aufsichtsbehörden und Zentralbanken gleichermaßen vor besondere Herausforderungen gestellt. Die Europäische Zentralbank hat erhebliche Anstrengungen unternommen – und wird dies auch weiterhin tun –, um den Schwächen der Finanzmärkte entgegenzuwirken und deren reibungsloses Funktionieren zu fördern. Ich möchte heute darüber sprechen, welche Lehren für die Geldpolitik und die Finanzstabilität wir bisher aus der Finanzmarktkorrektur gezogen haben.

I. Maßnahmen der EZB im Hinblick auf das Management der Geldmärkte

In den zehn Jahren ihres Bestehens war die EZB bei der Durchführung ihrer Geldpolitik mehrmals mit besonders schwierigen Umständen konfrontiert. Als Beispiele wären hier u. a. die globale Korrektur an den Aktienmärkten nach dem Platzen der „New-Economy“-Blase und die Terroranschläge vom 11. September 2001 zu nennen. Bei den seit Anfang August 2007 auftretenden Finanzmarktturbulenzen handelt es sich mit Sicherheit um die bislang größte Herausforderung.

Wie andere große Zentralbanken weltweit hat die EZB während der verschiedenen turbulenten Phasen an den Finanzmärkten unverzüglich und zuverlässig reagiert, um das reibungslose Funktionieren des Geldmarkts sicherzustellen. Um Ihnen die Rolle der EZB in diesem Zusammenhang zu veranschaulichen, möchte ich zunächst das sogenannte „separation principle“ erläutern: Die EZB trennt ganz klar zwischen der Festlegung des geldpolitischen Kurses einerseits und dessen Umsetzung mithilfe von Liquiditätssteuerungsoperationen andererseits. Der geldpolitische Kurs wird derart festgelegt, dass er dem vorrangigen Ziel der EZB – der Gewährleistung von Preisstabilität – dient. Die Umsetzung des geldpolitischen Kurses durch den Einsatz von Liquiditätssteuerungsoperationen zielt darauf ab, die sehr kurzfristigen Geldmarktzinsen nahe am EZB-Leitzins (dem für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte des Eurosystems geltenden Mindestbietungssatz) zu halten.

In den zu Beginn jedes Monats gefassten geldpolitischen Beschlüssen des EZB-Rats, bei denen dieser über das zur Erreichung von Preisstabilität im Euroraum angemessene Niveau der EZB-Leitzinsen entscheidet, kommt der geldpolitische Kurs konkret zum Ausdruck.

Das Direktorium der EZB ist dann für die Umsetzung dieser Beschlüsse zuständig. Zu diesem Zweck verfügt es über eine Reihe operativer Instrumente und Verfahren, mit denen die Geldmarktzinsen am sehr kurzen Ende der Zinsstrukturkurve am Geldmarkt in Einklang mit dem vom EZB-Rat festgelegten Zinsniveau gebracht werden können. Ein wichtiges Element dieses Prozesses ist die Durchführung sogenannter Liquiditätssteuerungsoperationen, mit denen die EZB als alleinige Emittentin von Euro-Zentralbankgeld die dem Bankensystem zugeführte Liquidität bestimmen und somit die kurzfristigen Geldmarktzinsen steuern kann.

Selbstverständlich ist das ordnungsgemäße Funktionieren des Geldmarkts aus Sicht der Zentralbanken für die Übertragung der Leitzinsen auf die Wirtschaft im Allgemeinen und das Preisniveau im Besonderen äußerst wichtig. Die jüngste Erfahrung zeigt, dass Störungen an den Geldmärkten den geldpolitischen Transmissionsprozess beeinträchtigen können, insbesondere in Krisenzeiten, die auf erhöhte Unsicherheit und fehlendes Vertrauen bei Banken und Anlegern zurückzuführen sind. In einem solchen Umfeld können Liquiditätssteuerungsoperationen eingesetzt werden, um das reibungslose Funktionieren der Geldmärkte – und somit ihre Rolle bei der Transmission der Geldpolitik – zu unterstützen. Gleichzeitig muss jedoch klar sein, dass letztlich allein der private Sektor die den momentanen Spannungen an den Geldmärkten zugrunde liegenden Bedenken im Hinblick auf Kreditwürdigkeit, mangelnde Transparenz und das daraus resultierende gegenseitige Misstrauen zerstreuen kann.

Daher hat die EZB im Rahmen des bereits erwähnten „separation principle“ ihre operativen Instrumente und Verfahren flexibel eingesetzt, um zum reibungslosen Funktionieren des Geldmarkts beizutragen. So hat sie insbesondere drei Maßnahmen ergriffen, um den Zugang solventer Banken zu Liquidität zu unterstützen und allgemein das Funktionieren des Geldmarkts zu fördern.

Erstens hat die EZB über die Mindestreserve-Erfüllungsperioden vorausgreifend Liquidität zur Verfügung gestellt („Frontloading“), indem sie die Zuteilungsbeträge der Hauptrefinanzierungsgeschäfte zu Beginn der Erfüllungsperiode erhöht und gegen Ende der Erfüllungsperiode verringert hat, sodass die durchschnittliche Liquiditätsausstattung während der Erfüllungsperiode insgesamt unverändert blieb.

Zweitens hat sie die Flexibilität ihres Handlungsrahmens genutzt und die Modalitäten für die Liquiditätszuteilung an das Bankensystem erweitert. So hat sie

  1. die Feinsteuerungsoperationen häufiger genutzt,

  2. zusätzliche langfristige Refinanzierungsgeschäfte durchgeführt und folglich die durchschnittliche Laufzeit der Offenmarktgeschäfte verlängert und

  3. in einigen Fällen ein spezielles Tenderverfahren mit vollständiger Zuteilung eingesetzt.

Drittens hat die EZB ihre Zusammenarbeit mit anderen Zentralbanken verstärkt; dies geschah insbesondere durch koordinierte Schritte zur Bereitstellung von Liquidität in US-Dollar. Wie Sie wissen, haben wir gestern beschlossen, mit dem Federal Reserve System eine Swap-Vereinbarung über einen Betrag in Höhe von 240 Milliarden US-Dollar einzugehen.

Als Ergebnis all dieser Maßnahmen blieb der Durchschnittssatz des EONIA (Euro Overnight Index Average) ungeachtet der im historischen Vergleich ungewöhnlich hohen Volatilität in der Nähe des Mindestbietungssatzes. Trotz gebotener Bescheidenheit möchte ich erwähnen, dass die Entwicklungen der letzten Monate zeigen, dass sich die Geschäfte der EZB positiv auf die Bedingungen am Geldmarkt im Euroraum ausgewirkt haben.

Ich möchte betonen, dass die EZB den Zugang solventer Banken zu Liquidität sowie das Funktionieren des Geldmarkts so lange unterstützen wird, wie dies nötig ist.

II. Lehren und Empfehlungen im Hinblick auf Finanzstabilität und Aufsicht

Ich möchte mich nun einigen Lehren zuwenden, die wir im Hinblick auf Finanzstabilität und Aufsicht aus den derzeitigen Turbulenzen gezogen haben. Zunächst werde ich kurz auf die wesentlichen Schwächen des Finanzsystems und des regulatorischen Rahmens eingehen, die durch die jüngsten Ereignisse an den globalen Finanzmärkten zutage getreten sind. Um den mit der Förderung der Finanzstabilität betrauten politischen Entscheidungsträgern angemessene Orientierungshilfen zu geben, ist ein gründliches Verständnis der zugrunde liegenden Entwicklungen sowie die Bestimmung der Art und des Ausmaßes der Schwachstellen im Finanzsystem ausschlaggebend. Diese Aufgabe stellt für uns alle eine besondere Herausforderung dar, da das Finanzsystem global integriert ist und die Entwicklungen an den verschiedenen Märkten oft eng miteinander verflochten sind und sich sogar gegenseitig verstärken.

Erstens lag die Ursache der Probleme vieler von den Marktanspannungen betroffener Finanzinstitute darin begründet, dass sie nicht in der Lage waren, die mit ihren Engagements – entweder direkt, also bilanzwirksam, oder indirekt über außerbilanzielle Gesellschaften – verbundenen Risiken angemessen einzuschätzen. Unvollkommenheiten bei den Risikomanagementsystemen und bei der Risikosteuerung erwiesen sich als Faktoren, die erheblich zur Akkumulation von Engagements beitrugen, deren langfristige Risikomerkmale vorab nicht korrekt ermittelt wurden. Mit der Umkehr der Immobilien- und Kreditzyklen und dem Versiegen der Liquidität in bestimmten Marktsegmenten wurde deutlich, dass ein beträchtlicher Teil dieser Engagements zu hoch bewertet war, sodass Finanzinstitute massive Verluste verbuchen mussten. Offensichtlich war es dem Risikomanagement nicht gelungen, den Instituten präzise Signale zu geben, ausreichende Puffer aufzubauen, um eventuell auftretende Verluste auffangen zu können.

Zweitens begegneten die Finanzinstitute den mängelbehafteten Anreizen aus dem „Originate-and-Distribute“-Geschäftsmodell nicht in angemessener Weise. Die jüngsten Ereignisse haben erneut gezeigt, dass solide Underwriting-Standards für die Wahrung der Stabilität sowohl auf Unternehmens- als auch auf systemischer Ebene ausschlaggebend sind. Vor der Marktkorrektur war generell eine deutliche Lockerung der Kreditrichtlinien zu beobachten gewesen, was kürzlich zu einem beispiellosen Anstieg der Zahlungsausfälle bei Subprime-Hypotheken führte. Während ungünstige Entwicklungen ihren Lauf nehmen und in vielen Ländern weltweit die Immobilienpreise sinken und sich das Wirtschaftswachstum abschwächt, sind die Finanzinstitute mit weiteren Abschreibungen bei Engagements niedriger Qualität konfrontiert.

Drittens erschwerte die mangelnde Transparenz des gesamten Verbriefungsprozesses, der die zugrunde liegenden Hypotheken zu komplexen strukturierten Produkten machte, es den Marktteilnehmern festzustellen, wo im Finanzsystem sich die Risiken häuften und welches Ausmaß mögliche Verluste aus diesen Engagements annehmen könnten. Diese Intransparenz des Verbriefungsprozesses – gepaart mit dem übergroßen Vertrauen der Anleger in externe Ratings und ihrem mangelnden Verständnis derselben – untergrub das Anlegervertrauen ernsthaft und belastet die Finanzmärkte nach wie vor.

Viertens war es den Unternehmen angesichts der Liquiditätsengpässe in bestimmten Marktsegmenten nicht mehr möglich, eine Reihe finanzieller Vermögenswerte und außerbilanzieller Engagements korrekt zu bewerten. Zugegebenermaßen erwiesen sich die bestehenden Bewertungs- und Rechnungslegungsstandards als ungeeignet für illiquide Märkte.

Die Ursachen der derzeitigen Turbulenzen an den Finanzmärkten sind – ebenso wie ihre Folgen – vielfältig. Derzeit ist zu beobachten, dass die Finanzinstitute zunehmend unter Druck geraten, ihre Portfolios zu bereinigen und ihre Eigenkapitalbasis auszubauen, was den Prozess des raschen Schuldenabbaus, der bereits eingesetzt hat, verstärkt. Diese Entwicklungen, begleitet von zunehmender Risikoaversion und der Verschärfung der Kreditrichtlinien, können erhebliche Auswirkungen auf die Realwirtschaft haben, über die sich politische Entscheidungsträger im Klaren sein sollten. In diesem Kontext sind die Regulierungs- und Aufsichtsbehörden gefordert, die Gratwanderung zwischen prompten und angemessenen Reaktionen auf die derzeitigen Entwicklungen auf kurze Sicht und der Abschwächung der Mechanismen, die die Abwärtsspirale von finanzieller und wirtschaftlicher Kontraktion längerfristig begünstigen können, zu meistern.

Seit dem ersten Tag der Finanzmarktturbulenzen haben öffentliche Stellen auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene sehr aktiv Maßnahmen identifiziert, die das Vertrauen wiederherstellen und die Widerstandsfähigkeit des Finanzsystems verbessern. Auf europäischer Ebene gibt der Fahrplan des ECOFIN-Rats vor, welche Schritte von den Behörden im Jahresverlauf 2008 und darüber hinaus zu ergreifen sind. Auf internationaler Ebene werden die politischen Initiativen vom Forum für Finanzstabilität koordiniert, dessen Empfehlungen im April dieses Jahres von den Ministern und Zentralbankpräsidenten der G 7 verabschiedet wurden. Ich werde aus den vielen Themenbereichen dieser Initiativen einige wenige herausgreifen, die mir besonders wichtig erscheinen.

Erstens sind bessere Risikomanagementtechniken und -verfahren sowie eine bessere unternehmensweite Aufsicht Eckpfeiler einer jeden politischen Reaktion. Beispiele sind u. a. die Verbesserung des Managements von Risikokonzentrationen auf Gruppenebene, die Überprüfung der Stresstestpraktiken der Banken sowohl im Kontext des Liquiditäts- als auch des Kreditrisikomanagements und die Beseitigung von Schwachstellen beim Management von verbrieften Forderungen und sonstigen außerbilanziellen Engagements. Trotz der wichtigen Rolle, die den öffentlichen Stellen in diesem Bereich zukommt, sollte die Hauptverantwortlichkeit für die Beseitigung der gravierenden Schwachstellen in den Geschäftsgepflogenheiten bei der Finanzdienstleistungsindustrie liegen. In diesem Zusammenhang sind die effektive und zeitnahe Umsetzung der Grundsätze sowie Empfehlungen für Best Practices, die von der Finanzwelt [in den Berichten des Institute of International Finance und der Counterparty Risk Management Policy Group III („Corrigan-Bericht“)] festgelegt wurden, und eine regelmäßige Beurteilung ihrer Einhaltung von herausragender Bedeutung.

Zweitens ist eine größere Transparenz und Verlässlichkeit der von den Unternehmen veröffentlichten Informationen essentiell, um das Vertrauen in die Finanzmärkte zurückzugewinnen. Die Prüfung der Offenlegungspflichten nach dem derzeitigen regulatorischen Rahmen, insbesondere im Hinblick auf außerbilanzielle Vehikel und komplexe Engagements im Verbriefungsgeschäft, ist im Gange. Außerdem wird von den Behörden untersucht, ob die Berichtspraktiken der Banken mit den Empfehlungen des Forums für Finanzstabilität in Einklang stehen.

Was drittens die Stärkung der Liquiditätspolster der Finanzinstitute betrifft, möchte ich hervorheben, dass der Basler Ausschuss in Kürze seine Leitlinie zu solidem Liquiditätsrisikomanagement und Aufsicht („Principles on Sound Liquidity Risk Management and Supervision“) abschließen wird und die Aufsichtsbehörden nach der Veröffentlichung bewerten werden, inwieweit die Banken diese Grundsätze befolgen.

Schließlich ist die Verbesserung der Regelungen zur Eigenkapitalausstattung für die Förderung der Finanzstabilität entscheidend. In dieser Hinsicht findet unter der Ägide des Basler Ausschusses bereits eine breite Zusammenarbeit auf internationaler Ebene statt. Vorschläge zu bestimmten aktuellen Themen der Eigenkapitalregulierung wurden bereits veröffentlicht und sollen in den Jahren 2010 und 2011 schrittweise eingeführt werden.

Hier ist die Bedeutung der Eigenkapitalanalysen hervorzuheben, die von verschiedenen internationalen Foren – einschließlich des Basler Ausschusses – durchgeführt werden. Bei diesen Analysen sollen die Entwicklungen der Mindestkapitalanforderungen im Rahmen von Basel II untersucht werden, um die Höhe und Zyklizität der Eigenkapitalanforderungen einzuschätzen. Auf dieser Grundlage können die möglichen Auswirkungen auf das Verhalten der Banken und den Konjunkturzyklus erkundet werden. Da die vollständige Beseitigung konjunkturbedingter Schwankungen des Kreditgeschäfts der Banken unrealistisch ist, sollten sich die Regulierungsbehörden stattdessen darauf konzentrieren, die Häufigkeit und Tragweite systemischer Krisen zu verringern. Zu diesem Zweck sollte das regulatorische Rahmenwerk so überarbeitet werden, dass der Aufbau übermäßiger Risiken in der Aufschwungphase begrenzt wird und die Kosten finanzieller Anspannungen in der Abschwungphase gedämpft werden. Für die Behörden ist es jedoch eine große Herausforderung, den regulatorischen Rahmen korrekt zu definieren, sodass die Eigenkapitalpolster der Banken bei einer konjunkturellen Abkühlung schrumpfen (d. h. Verluste auffangen) können, ohne einem Moral Hazard oder Regulierungsarbitrage Vorschub zu leisten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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