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  • DER EZB-BLOG
  • Frankfurt am Main, 28. Juni 2020

Erforderlich, geeignet, verhältnismäßig

Beitrag von Isabel Schnabel, Mitglied des Direktoriums der EZB, in Welt am Sonntag

Erforderlich, geeignet, verhältnismäßig

Seit dem 5. Mai ist ein Wort in aller Munde, wenn es um Geldpolitik geht: die Verhältnismäßigkeit. Diese – oder zumindest ihr sorgfältiger Nachweis durch die Europäische Zentralbank (EZB) – wurde vom Bundesverfassungsgericht infrage gestellt. Nachdem sich für das vom Gericht kritisierte Anleihekaufprogramm eine Lösung abzeichnet, fragen sich viele, ob das in der Corona-Pandemie neu geschaffene Ankaufprogramm diesen Test ebenfalls bestehen würde. Meine klare Antwort lautet ja.

Die Welt erlebt zurzeit eine humanitäre und wirtschaftliche Krise ungeahnten Ausmaßes mit dramatischen Einbrüchen von Produktion, Handel, Konsum und Investitionen. Die Prognosen des Eurosystems gehen im Euroraum von einem Einbruch der Wirtschaftsleistung im Jahr 2020 von fast 9% aus, in Deutschland von rund 7%.

Wie stark und wie lange die Corona-Krise die Wirtschaft belasten wird, hängt entscheidend von der wirtschaftspolitischen Antwort ab. Die nationale Fiskalpolitik hat in vielen europäischen Ländern entschlossen reagiert, um die Liquidität von Unternehmen zu sichern und die Auswirkungen auf die Beschäftigten abzufedern. Hinzu kommt die sich formierende europäische fiskalische Antwort, die sicherstellen soll, dass Europa – zum Wohle aller – ohne allzu große Narben durch die Krise kommt.

Die EZB reagierte bereits sehr früh auf die Krise. Ein zentrales Element war das neue Anleihekaufprogramm – das Pandemic Emergency Purchase Programme oder kurz PEPP. Es wurde als Antwort auf diese Krise konzipiert und unterliegt auf den ersten Blick weniger Beschränkungen als das frühere Anleihekaufprogramm, was die Frage nach seiner Verhältnismäßigkeit aufwirft.

Sind die Maßnahmen erforderlich?

Zu Beginn der Krise sahen wir uns heftigen Turbulenzen an den Finanzmärkten gegenüber, die durch das rasche Eingreifen der EZB erfolgreich stabilisiert wurden. Ohne diese Maßnahmen befände Europa sich heute vermutlich inmitten einer schweren Finanzkrise, mit verheerenden Folgen für Wirtschaft und Beschäftigung. Ein deutliches Absinken des Preis- und Lohnniveaus wäre unvermeidlich gewesen, was nicht im Einklang mit dem Ziel der Preisstabilität gestanden hätte.

Trotz der erfolgreichen Stabilisierung zu Beginn sehen aktuelle Prognosen nur eine allmähliche wirtschaftliche Erholung voraus. Die Inflation im Euroraum wird sich auf mittlere Sicht deutlich abschwächen und könnte bis in das nächste Jahr nahe bei 0% liegen. Aus Sicht des EZB-Rates bestand die Gefahr, dass sich die niedrige Inflation verfestigen könnte. Unsere geldpolitischen Maßnahmen waren daher erforderlich.

Sind die Maßnahmen geeignet?

Sind die Instrumente aber geeignet, die Inflation mittelfristig näher an unser Ziel heranzuführen?

Der Handlungsspielraum für „konventionelle“ geldpolitische Maßnahmen – also Veränderungen des Leitzinses – ist gering. Angesichts der Annäherung an die effektive Nullzinsgrenze bleibt vielen Zentralbanken kaum etwas anderes übrig, als auf „unkonventionelle“ Maßnahmen zurückzugreifen, um ihr Mandat weiterhin zu erfüllen.

Anleihekäufe sind – neben der Bereitstellung von Liquidität für Banken – in stürmischen Zeiten besonders effektiv, da sie unmittelbar stabilisierend wirken und selbstverstärkende Preisspiralen vermeiden helfen, die den Währungsraum als Ganzes destabilisieren könnten. Hierbei ist die Flexibilität der Anleihekäufe – über die Zeit, Länder und Wertpapierarten – besonders wichtig, ohne dabei die Grundprinzipien der Währungsunion, insbesondere das Verbot der monetären Staatsfinanzierung, infrage zu stellen.

Daher haben wir auch beim PEPP klare Vorkehrungen getroffen, die diese Prinzipien schützen. Hierzu gehört, dass der EZB-Kapitalschlüssel als Orientierung für die Aufteilung der Käufe über die Mitgliedstaaten dient. Aber wir werden Abweichungen vom Kapitalschlüssel dulden, um die Transmission der Geldpolitik im gesamten Euroraum sicherzustellen. In Abhängigkeit von den Marktbedingungen könnte die Reinvestitionsphase des PEPP genutzt werden, um vergangene Abweichungen vom Kapitalschlüssel schrittweise zurückzuführen.

Die Maßnahmen haben sich als überaus wirksam erwiesen: die Finanzierungsbedingungen von Staaten, Unternehmen und Banken haben sich spürbar verbessert und die gesamtwirtschaftliche Entwicklung hat sich stabilisiert. Laut EZB-Schätzungen erhöhen die Maßnahmen das Wachstum im Euroraum zwischen 2020 und 2022 um 1,3 Prozentpunkte und verleihen der Inflation spürbaren Auftrieb. Sie sind also geeignet.

Sind die Maßnahmen verhältnismäßig?

Als letztes stellt sich die Frage, ob die Maßnahmen verhältnismäßig im engeren Sinne sind, ob die Vorteile also ihre Nachteile überwiegen. Ich möchte zwei potenzielle Nebenwirkungen betrachten: die Verteilungseffekte der Geldpolitik und die Auswirkungen auf die Haushaltsdisziplin von Regierungen.

Jede geldpolitische Maßnahme beeinflusst die Verteilung. Denn Zentralbanken versuchen, die Anreize zum Sparen und Investieren so zu verändern, dass sie im Einklang mit stabilen Preisen stehen. Wären die Verteilungseffekte bei Verwendung anderer Instrumente geringer?

EZB-Studien zeigen, dass wir den Leitzins auf circa -1,7% – von derzeit -0,5% – hätten senken müssen, um denselben geschätzten Effekt auf die Inflation zu erzielen wie mit den zusätzlichen Anleihekäufen. Die hiermit verbundenen Verluste der Sparer hätten fast denen der vergangenen sechs Jahre entsprochen. Die zusätzlichen Verluste der Sparer durch unsere neuen Anleihekäufe sind hingegen vernachlässigbar. Zudem nutzt das beherzte Eingreifen der EZB den Schwächsten in der Gesellschaft am meisten, da deren Arbeitsplätze durch die Krise am stärksten gefährdet sind. Ohne unsere Maßnahmen wären die Verteilungseffekte demnach viel weitreichender gewesen.

Die zweite potenzielle Nebenwirkung betrifft die Anreize der Geldpolitik für die Haushaltsdisziplin der Regierungen. Günstigere Zinsen könnten Staaten dazu verleiten, sich stärker zu verschulden.

Tatsächlich haben sich die primären Haushaltssalden im Euroraum seit Beginn der des Ankaufs öffentlicher Anleihen im Jahr 2015 verbessert. Die COVID-19-Krise wird diesen Trend zwar beenden. Doch dies ist keine Folge von Anreizproblemen. Denn es ist wünschenswert, dass sich die Staaten verschulden, um die gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Krise abzumildern. Aber noch heute sehen wir eine Kluft zwischen der fiskalischen Reaktion auf nationaler Ebene und den geschätzten wirtschaftlichen Folgen der Krise. Diese Kluft birgt die Gefahr, die Divergenz im Euroraum zu verstärken.

Die EZB wirkt der Fragmentierung im Rahmen ihres Mandats entgegen. Damit dies längerfristig keine falschen Anreize setzt, sind die Anleihekäufe an die Dauer der Krise gebunden und werden anschließend wieder zurückgefahren.

Verhältnismäßige Geldpolitik

Das PEPP ist die Antwort der EZB auf die schwerste Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Ohne die beherzten Maßnahmen befänden wir uns heute vermutlich inmitten einer schweren Finanzkrise. Das PEPP hilft, die Transmission der Geldpolitik zu sichern, Investitionen und Arbeitsplätze zu erhalten und Preisstabilität zu wahren. Der Nutzen unserer geldpolitischen Maßnahmen überwiegt deren Kosten deutlich. Die Maßnahmen der EZB in Reaktion auf die Krise sind somit erforderlich, geeignet und verhältnismäßig – zum Nutzen aller europäischen Bürgerinnen und Bürger.

Dieser Blogeintrag erschien erstmals als Gastkommentar in der Welt am Sonntag am 28. Juni 2020.